Die Milchmädchenrechnerin, Teil 1

Lieschen Müller war eine wahrhaft begnadete Frau: Schon im zarten Alter von 5 5/7 Jahren beherrschte sie ausgebuffteste arithmetische Kalkulationen: Bigonometrie (eine einfachere Fassung der Trigonometrie), Desintegralrechnung (mit welcher man bestimmen kann, was alles nicht unter einer Kurve ist) und den seitlich eingesprungenen Dreisatz.

Solcherart von der Natur begünstigt, vermochte sie das exakte Gewicht der Füllung eines Karamel-Bonbons im Kopf auf den Gran genau zu kalkulieren, doch die anderen Kinder verachteten sie ob ihres Talentes und teilten nie die Bonbons mit ihr. Deshalb war Lieschen von einer tiefen Traurigkeit erfüllt und ihre einzige Freude war das Nachdenken über ihre Lieblingszahl, die Quadratwurzel aus pi.

Erst viele Jahre später, aus dem traurigen kleinen Mädchen war eine traurige junge Frau geworden, sollte sich alles zum Guten wenden, und dies geschah so:
Lieschen saß in einem Straßencafé, deprimiert, weil sie in ihrem Leben weder Freunde noch eine sinnvolle Aufgabe hatte und berechnete dabei, nur um sich vom Schmerz abzulenken, wie heftig ein brasilianischer Zitronenfalter mit seinen Flügeln schlagen musste, damit er den Hurrikan über dem Atlantik verursachte, dessen letzte müden Ausläufer Lieschens Tränen fortwehen würden. Die Antwort war: Nicht sehr heftig. Doch selbst diesen kleinen Gefallen verweigerte der Falter und so weinte Lieschen kleine, salzige Tränen auf ihr geblümtes Kleid.

Da sprang aus einem zufällig vorbeikommenden Gebüsch ein Gnom.
Zu dieser Jahreszeit passierte es in Kapitalia, der Hauptstadt Lattifundiens, oft, dass Gnome aus vorbeikommenden Gebüschen sprangen, den Anwesenden mathematische Rätsel stellten und sie für eine richtige Antwort mit leckeren Plunderteilchen belohnten. Gnome sind sehr berechenbar. Lieschen dachte, dass etwas Gebäck jetzt ganz gut zu ihrem Tee passen und vielleicht auch den salzigen Geschmack der Tränen überdecken würde. Also fragte sie den Gnom:

„Guten Tag, lieber Gnom. Stell mir dein Rätsel, ich habe Appetit auf ein leckeres Plunderteilchen. Und mach es schwer, denn ich hab es auch schwer.“
„Du bist dir ja sehr sicher“, sagte der Gnom und stellte sein Rätsel:
„An einem schönen Sonntag besucht ein Mann mit seinem Hund einen Freund. Am Nachmittag macht er sich auf den Rückweg: Acht Kilometer, und er spaziert mit gemütlichen Fünf Kilometern in der Stunde. Sein Hund freut sich auf das nahende Zuhause und läuft vor, mit zehn Kilometern in der Stunde. Sobald er am Haus ist, rennt er zurück zu seinem Herrchen, das in der Zeit ja auch weitergegangen ist. Dort angekommen, dreht er sofort wieder um und rennt zum Haus und das die ganze Zeit über. Wie viele Kilometer legt der Hund zurück?“
Lieschen beugte herunter und flüsterte dem Gnom ins Ohr.
„Respekt“, sagte der und zog seine Melone, „offensichtlich bist du auf die elegante Lösung gekommen, statt mit Differentialrechnung zu arbeiten.“
„Nicht ganz.“ Sie schaute verlegen in ihren Tee. „Ich hab es auf beide Weisen durchgerechnet.“
„Dann bist du ja eine Milchmädchenrechnerin! Komm mit mir, so ein Talent darf nicht vergeudet werden!“ Der Gnom nahm sie an der Hand und zog sie ins Gebüsch.
„Hoffentlich gibt es dort Plunderstückchen“, dachte Lieschen.



 

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